der Daoismus

 

"Kein Ding ist von sich aus fremd, es braucht mich,

um fremd zu werden." (Shanhaijing, Vorwort)   

 

In der Philosophie des Daoismus geht es um  Prozess des dao 道 und seine Wandlungen, die  gleichermassen den Makrokosmos der Natur wie den Mikrokosmos Mensch umfassen.  Unter dao wird zunächst ein ein universell gültiger und wirksamer "Weg" -so die allgemeine Übersetzung für dao 道 - verstanden , der jedoch kein statischer oder vorgegebener Weg, sondern ein sich ständig verändernder Prozess ist. Dieser Aspekt der Prozesshaftigkeit hat dabei – ganz im Unterschied zum abendländischen Denken – unbedingte Priorität vor der Form und dem Sein, im Sinne eines Zustandes. 

 

Ursprünge des dao 道  

 

 Lao Zi 老子 (5 Jh.v.Chr.) , der als Gründer des Daoismus gilt,  begreift in seinem Werk  Daodejing 道德經 (der Klassiker vom dao und seiner Wirkkraft)  das dao auch als den Moment der Disposition oder Neigung aller Prozesse und Dinge im Kosmos, die sich noch nicht entfaltet haben.  Bedeutungsvollstes Charakteristikum des dao ist die Unmöglichkeit, sein Wesen konkret zu beschreiben, sucht man sich ihm zu nähern. Gleich im ersten Kapitel des Daodejing wird auch davon gesprochen, dass

„das dao, welches man aussprechen (dao) kann, nicht das dauerhafte dao, der Name, den man nennen kann, nicht der dauerhafte Name ist“ (Daodejing, 1)

So offenbart sich das dao in den vielfältigen Erscheinungsformen aller Wesen im Kosmos und ist zugleich der einzigartige Weg der Lebensführung und Selbstkultivierung eines jeden Indviduums.  

 

 Handeln durch Nicht-Handeln Wuwei 無為  

 

Die Prozesshaftigkeit des dao impliziert - im Sinne einer daoistischen Lebensweise - die Kunst des "Nicht Handelns"  (wuwei 無為).   Mit Nicht-Handeln, welches noch treffender mit „Nicht-Eingreifen“ wiedergegeben werden kann, ist jedoch weder vollkommene Passivität gemeint, noch bezieht sich wuwei allein auf von außen wahrnehmbare, objektive Handlungen. Vielmehr geht es um einen mentalen Zustand des Handelnden, der seine Handlungen so ausführt, dass sie „ohne Anstrengung“ von statten gehen und zugleich keinerlei schädigende Wirkung auf die Umgebung ausüben: 

 

"Weil der Weise nicht handelt, deshalb verdirbt er nichts. Weil er nichts festhält, deshalb verliert er nichts. Wenn das Volk seinen Geschäften nachgeht, dann verdirbt es sie oft, wenn es sie fast vollendet hat. Achtet man auf das Ende wie auf den Anfang, dann verdirbt man die Angelegenheit nicht. Daher begehrt der Weise das Nicht-Begehren und schätzt schwer zu erlangende Güter nicht hoch. (Daodejing 57)

 

Die Handlung geschieht aus einem Zustand der vollkommenen persönlichen Harmonie, die, obgleich sie keiner besonderen Überlegungen bedarf, in perfekter Übereinstimmung mit den äußeren Gegebenheiten – und im daoistischen Sinne mit dem dao – stattfindet. Wuwei dient im Rahmen der Selbstkultivierung dem Menschen als spirituelles Ideal, welches den Einzelnen an seinen Platz innerhalb eines größeren normativen Zusammenhangs setzt. Wuwei bedeutet geschehen lassen können und den Dingen ihre eigene Zeit zu lassen.  Doch gleichzeitig muss sich wuwei immer an der Realität orientieren, da sich die Wirksamkeit von wuwei  letztendlich nur an dieser messen lassen kann. So  ermöglicht wuwei die größtmögliche Effizienz persönlichen Handelns, da man mit und nicht entgegen dem dao handelt. 

 

Daoismus in der Praxis

Diese Charakterisierung mag genügen, um zu verstehen, dass aus einer daoistischen Perspektive wenige die rein intellektuelle Erkenntnis zu einem guten und weisen Leben sowie klugen Entscheidungen führt, als die Entwicklung der emotionalen Intelligenz. So wird sich beispielsweise die ursprüngliche Natur oder das Wesentliche einer Person bzw. oder Sachverhaltes nur dann zu entfalten (und somit auch zu erkennen geben) , wenn ich so wenig wie möglich eingreife - was freilich nicht bedeutet dass in vielen Situationen ein Eingreifen durchaus notwendig und sinnvoll ist (nicht nur in der Medizin) . Denn ein zu  viel an wei verdeckt die eigentliche Natur.  Wuwei dient dabei auch als Resonanzprinzip (ganying 感應), je weniger ich eingreife, um so mehr gelingt es mir auf die Welt zu hören und in Resonanz mit ihr zu treten. Insofern ist das wuwei auch eine innere Haltung, bei der man weder im Guten verweilt noch vom Schlechten unterdrückt oder geängstigt wird.  

 

Ein Leben nach den Grundsätzen von wuwei  und in Einklang mit dem dao bedeutet jedoch nicht, dass es kein freies oder selbstbestimmtes Leben wäre. Das dao offenbart vielmehr die natürlichen Gesetzmäßigkeiten – den äußeren Rahmen - , innerhalb dessen ein gutes Leben möglich ist. Die Vorstellung von Freiheit bezieht sich  im chinesischen Kontext weniger auf eine äußere, politisch-gesellschaftliche Freiheit, als auf die innere Freiheit des Geistes, die ein gelungenes Leben ermöglicht.

Dabei ist es ganz wesentlich die eigene emotionale Intelligenz zu kultivieren und ein offenes ungebundenes Herz zu haben, das einen freien Geist beherbergt.  Die daoistische Perspektive vermag uns unsere eigene (allzugewohnte ) Perspektive in einem anderen Licht zu zeigen, mit dem Ziel die Grenzen unseres eigenen Denkens zu überwinden und den Raum für neue und kluge Entscheidungsfindungen zu öffnen.