Daoismus und Lebenspflege

 

 

Die Frage nach der Pflege des Lebens und damit die Frage, wie Gesundheit am besten zu erhalten und (wieder) herzustellen ist,  war und ist in China nicht allein Thema der Chinesischen Medizin und damit ein Thema von und für Spezialisten.  Vielmehr hat sich im chinesischen Denken gerade die Philosophie und ein Bereich, der zwischen Philosophie und Medizin liegt und prinzipiell Anliegen aller Menschen sein sollte, das Thema  Gesundheit zu seinem zentralen Anliegen gemacht: dies ist die Methode des yangsheng – „die Pflege des Lebens“.  Denn dort wird die Fähigkeit eines jeden Menschen sein eigener Arzt zu sein in besonders hohem Maße kultiviert. 

 

Yangsheng  bezieht sich jedoch nicht auf eine definierte Methode bzw. Technik. Es ist vielmehr so, dass sich im Laufe der historischen Entwicklung -  angefangen von der Han- Zeit (2Jh.v-2.Jh.n.Chr.) bis zum gegenwärtig praktizierten Qigong  - eine Vielzahl von körperlichen  und geistigen Übungen entwickelt hat.  Hierzu zählen gymnastische Übungen (daoyin), Massage, Atemübungen, sexuelle Praktiken, Diätetik, Meditationen und Visualisierungen sowie freilich Taijiquan und Qigong. 

 

Zhuang Zi (4. Jh v.Chr.), der bedeutendste daoistische Philosoph neben Lao Zi ($ Jh v.Chr.), hat in seinem Werk erstmals  eine theoretische Grundlage für die Vielzahl von Yangsheng Techniken formuliert.Im Kapitel „ das Leben durchdringen/ verstehen?“ (dasheng) heißt es: 

 

„Tian Kaizhi besuchte Herzog Wei von Zhou. Herzog Wei sprach: Ich habe gehört, dass Zhu Shen („der, der die Nieren preist“)  die Kunst des Lebens erlernte, Ihr Meister, seid mit ihm gemeinsam gewandelt, dürfte ich etwas darüber erfahren? Tian Kai Zhi antwortete: Ich stand mit dem Besen in seiner Tür, um Staub zu kehren, was sollte ich vom Meister gelernt haben? Wei Gong sagte: Tian Zi lasst Euch nicht bitten, ich möchte  gerne davon hören. Kai Zhi antwortete: Ich habe den Meister sagen hören: Der, der gut darin ist sein Leben zu nähren, der ist so wie ein Schafhirte. Er schaut nach denen, die hinten geblieben sind, und peitscht sie an.“ „ Der Herzog sprach: Was hat das zu bedeuten? In Lu gab es jemanden, der lebte einsam in der Wildnis., die Felsen waren seine Behausung und Wasser sein Getränk, er strebte nicht mit den anderen Menschen gemeinsam nach Gewinn;  Er lebte so 70 Jahre lang und sein Gesicht war das eines Kindes; doch unglücklicherweise traf er einmal auf einen hungrigen Tiger. Der hungrige Tiger tötete und verspeiste ihn.  Und es gab einen prahlenden, kühnen Mann, er ging zu allen hochstehenden Häusern und reichen Kreisen. Er lebte so 40 Jahre, aber dann verstarb er an der Krankheit der inneren Hitze. Der Wilde nährte sein Inneres, aber der Tiger fraß sein Äußeres, der Kühne nährte sein Äußeres, aber die Krankheit griff sein Inneres an, alle beide haben es nicht verstanden, die Nachzügler anzutreiben.“

 

Das Leben zu nähren gleicht also dem Weiden lassen einer Schafherde (Die Schafherde taucht hier  vielleicht nicht ganz zufällig auf, denn das Schaf ist ja Bestandteil des Schriftzeichens yang). Man lässt die Schafe, so wie es gerade kommt und in ihrem eigenen Rhythmus vorwärts gehen, ohne dabei die Nachzügler aus dem Auge zu verlieren, sondern sie, gegebenenfalls, anzutreiben. Es gilt die Schafe anzutreiben, damit keines von ihnen zurückbleibt.  Im Hinblick auf die Pflege des Lebens heißt dies wohl „Wie sehe ich, was in mir zurückbleibt? Und zwar, wie die Beispiele des Einsiedlers und des „Geschäftsmannes“ zeigen, auf allen Ebenen des Lebens, sowohl im Sinne der Veranlagung,  der Funktionen, Triebe oder Gefühle wie auch in körperlicher, geistiger oder moralischer Weise.  Auf den Körper bezogen mag dies heißen, dass sich beispielsweise  Zellen oder Zellverbände vom gesamten Organismus isolieren, so dass sie nicht mehr an der allgemeinen Wandlung teilhaben, verkümmern oder von Krebs befallen werden können. Wenn hingegen auf einer seelischen Ebene Ereignisse  zurückbleiben und nicht in den Gesamtzusammenhang  integriert oder verdrängt werden,  können daraus Traumata entstehen und die seelische Gesundheit bedrohen.

Die beiden Verhaltensweisen des Einsiedlers und des Geschäftsmannes offenbaren, dass der Weg des  yangsheng weder in der alleinigen Kultivierung des Inneren – des Geistigen – noch in der alleinigen Kultivierung des Äußeren – des Körperlichen besteht.  Denn Keiner von beiden hat es verstanden seine Nachzügler anzutreiben.  Dabei liegt der Fehler nicht in der einen oder anderen Position selbst begründet, als vielmehr darin, dass sie jeweils in der einen Position verharrt haben und sich damit automatisch von der anderen Position abgeschnitten haben. abzuschneiden.

 

Der „richtige“ Weg zur Pflege des Lebens liegt hingegen in einer dynamisch gedachten Mitte, bei der es gelingt,  entsprechend den Umständen die eine oder andere Position einzunehmen, ohne dabei in ein Extrem zu verfallen bzw. dort zu verharren.  Denn es darf als wesentliches Anliegen der chinesischen Philosophie betrachtet werden,  und dies trifft nicht nur auf das daoistische Denken zu,  das eigene Verhalten den sich stets wechselnden Umständen bestmöglich anzupassen.  Das dogmatische Festhalten an bestimmten Wahrheiten oder Positionen bewirkt indessen, dass die anderen Positionen automatisch ausgeschlossen und/oder vernachlässigt werden und man sich so vom Prozess des Lebens selbst abspaltet.  Nachdem jede Position oder Verhaltensweise – im Sinne einer echten Polarität –  ihr Gegenteil immer schon in sich trägt, wird sie sich, begreift  man das Leben als einen Prozess, jedoch zwangsläufig ändern.  Gesundsein und Werden versteht sich hier als flexible Teilhabe am sich ständig wandelnden Lebensprozess, bei der - und dies ein großer Unterschied zu unserem eigenen Denken -  gerade die individuelle Persönlichkeit einem ständigen Wandel unterworfen ist.