Körper und Geist in China


Die Frage nach dem Geist und dem Seelischen  wird in den ältesten chinesischen Texten primär im Hinblick auf ihre Funktion und Aufgabe im menschlich-ethischen wie kosmologischen Bereich gestellt. Diese Aufgaben sind wiederum eng mit der chinesischen Vorstellung vom Ich verbunden, wo es ebenfalls weniger um die Frage geht „was bin ich“ als vielmehr „was soll ich“? Anders als im Abendland reflektieren die ältesten philosophischen Quellen ein sehr viel stärkeres Interesse an gesellschaftlichen und politischen als beispielsweise an ontologischen Fragen.  

Der Blick auf den Geist oder das Seelische im chinesischen Denken weist  deutlich über das Individuum hinaus.  So begreifen beispielsweise die Daoisten  den Geist (shen)   als  eine  überindividuell wirksame Kraft, die sich im Sinne eines Potentials jenseits von yin und yang befindet, aber gleichzeitig ihre individuelle Wirksamkeit im Menschen, ganz konkret im menschlichen Herzen, entfaltet.  

Im Hinblick auf das individuelle Verhältnis von Körper (xing) und Geist (shen)  offenbart sich in allen genuin chinesischen Denkströmungen – ganz im Gegensatz zum abendländischen Denken - die Untrennbarkeit von Körper und Geist.  Dieser fehlende ontologische Leib-Seele Dualismus hängt wiederum unmittelbar mit der alles verbindenden und überall wirksamen Lebenskraft qi zusammen. So wie der Körper selbst eine bestimmte, stark verdichtete Manifestation von qi darstellt, ist auch der Geist (shen), von seiner individuellen bis hin zur universellen Wirksamkeit, letztlich Ausdruck einer wohl als extrem verdünnt zu denkenden Form der Lebenskraft (qi). 

Wenngleich sich in der weiteren geistesgeschichtlichen Entwicklung durchaus eine verstärkte Blickrichtung nach innen und damit eine zunehmende  Individualisierung erkennbar wird, bleibt die Verbindung des Einzelnen zum Kosmos immer präsent. 

So wird im chinesischen Denken, ganz im Unterschied zum Abendland, weder von der Seele als eigenständiger ontologischer Entität noch von einer Leib-Seele Dichotomie gesprochen. Vielmehr wird das Verhältnis von Körper und Geist im Sinne eines sich dynamisch verändernden Prozesses diskutiert. Auch im Hinblick auf die individuelle Ausprägung im Menschen ist nicht von Leib und Seele, sondern von zwei seelischen Aspekten (hun und po) die Rede, welchen als Ausdruck einer kosmologisch wirksamen Dynamik gleichermaßen körperliche wie seelische Funktionen zugesprochen werden.

Im Gegensatz zur Entwicklung des Leib-Seele-Diskurses im Abendland, welcher mehrfache Brüche erkennen ließ, wurden in China bereits seit Beginn des philosophischen Denkens gleichzeitig unterschiedliche Standpunkte vertreten. Bei näherer Betrachtung stehen die einzelnen Auffassungen jedoch weniger in direktem Widerspruch zueinander, als sie verschiedene Aspekte bzw. Variationen ein und desselben Geschehens hervorheben und somit Ausdruck eiener kontinuierlichen Tradition sind. 

Insofern bilden die philosophischen Ausführungen zum Verhältnis von Körper (xing) und Geist (shen) sowie den polaren Kräften der Hauch- und Körperseele (hun und po) die dynamische Struktur, auf welche die medizinische Auffassung vielerorts nicht nur zurückgreift, sondern, die gleichsam eine spezifische und individuelle Manifestation des philosophischen  Denkens darstellen.