Leib und Seele im Abendland 


In der abendländischen Tradition ist das Wesen der Seele und/oder ihr Verhältnis zum Leib bei den meisten Philosophen ein ganz zentrales und eigenes Thema. Der Blick in das Innere eines Menschen ist im Leib-Seele Diskurs des Abendlandes der Blick auf die Psyche, welche die Individualität und den Wesenskern eines Menschen ausmacht. Insofern wird die Individualität eines Menschen in der abendländischen Tradition primär auf die Individualität der Psyche selbst zurückgeführt. 

Nachdem Plato dem für das abendländische Denken so charakteristischen Leib-Seele Dualismus erstmals eine diskursive Grundlage verliehen hat, wird die Frage nach Frage nach der Unsterblichkeit der Seele  zum wesentlichen Ausgangspunkt für den Dualismus von Leib und Seele. Dabei wird die Unsterblichkeit der Seele – ganz im Unterschied zum chinesischen Denken - gleichsam als deren „natürliche Veranlagung“ aufgefasst. 

Die  ungelöste Frage des gesamten abendländischen Leib-Seele Diskurses ist jedoch die Frage nach dem Medium der gegenseitigen Beeinflussung von Leib und Seele. Während als Ort dieser Verbindung, abgesehen von Aristoteles, bis in die Gegenwart in der Regel das Gehirn angegeben wird, ist die Frage nach der Art der Verbindung und dem „wie“ offen geblieben. Dieses ungelöste Problem hat sich bis zur heutigen Zeit fortgesetzt, in Gestalt der neurophysiologischen Forschungen, die immer noch auf der Suche nach dem Medium der Verbindung zwischen körperlichen und mentalen Prozessen sind. Hier zeigt sich, dass das philosophische Leib-Seele-Problem aktueller denn je ist und „mangels der Erforschung der eigentlichen Leib-Schicht vorerst noch weiterhin als ungelöst betrachtet werden muss“.

Ein anderes wesentliches Charakteristikum des abendländischen  Leib-Seele Diskurses ist, dass es sich hierbei weniger um eine lineare Entwicklung philosophischer Vorstellungen handelt,  die sich geradlinig durch die Geistesgeschichte zieht.  Vielmehr werden – und dies darf nicht nur als wesentliches Merkmal des ontologischen Leib-Seele Dualismus, sondern gleichermaßen als grundlegendes Charakteristikum des philosophischen Diskurses selbst verstanden werden – im Laufe der Geschichte verschiedene „Brüche“ erkennbar, die von dem Vermögen „das prinzipiell Andere“ zu denken nicht zu trennen ist. 

Ein erster Bruch manifestiert  sich in der  Abwendung vom mythischen hin zum rationalen Denken, wenn Homer die psyche – in Gestalt eines Abbildes – erst mit dem Tode in Aktion treten lässt  und Platon hingegen die Sorge um das Wohl der Seele, die ihrerseits unsterblich ist und immer nach dem Reich der Ideen strebt, ins Zentrum des Lebens stellt.  Ein weiterer Bruch zeigt sich unter dem Einflusses der christlichen Religion, wie er bei Augustinus und Thomas von Aquin, der sich wieder auf Aristoteles rückbesinnt, Gestalt angenommen hat. Der ontologische Dualismus von Descartes hat schließlich die Entwicklung einer Vielzahl von unterschiedlichen, teils diametral entgegengesetzten Standpunkten ausgelöst, die bis in die Gegenwart hinein andauert. So ist der Theorien- und Methodenpluralismus, wie er in der gegenwärtigen Psychologie und Psychiatrie herrscht, durchaus als konkrete medizinische Auswirkung dieser Brüche im Sinne einer unumgänglichen Folge philosophischen Dis-kutierens zu verstehen. Denn die Philosophie ist in der abendländischen Tradition nicht vom Disput, der Rede und Gegenrede, zu trennen weswegen jede neu gewonnene Erkenntnis zunächst das Resultat einer Unter-scheidung darstellt, aus der sich wiederum die Diskussion entwickelt, so dass das eine fortwährend das andere nach sich zieht.