Philosophie und Medizin

 

…. so wie man nicht unternehmen dürfe die Augen zu heilen ohne den Kopf, noch den Kopf ohne den ganzen Leib, so auch nicht den Leib ohne die Seele; sondern dieses eben wäre auch die Ursache, weshalb bei den Hellenen die Ärzte den meisten Krankheiten noch nicht gewachsen wären, weil sie nämlich das Ganze verkennten, auf welches man solche Sorgfalt richten müßte, und bei dessen Übelbefinden sich unmöglich irgend ein Teil Wohlbefinden könnte. (Plato, Charmides)

 

Sowohl in der abendländischen wie der chinesischen Tradition waren Philosophie und Medizin aufs engste miteinander verknüpft. Galen (129 – ca. 200) – einer der berühmtesten Ärzte in der hippokratischen Tradition wie - Sun Simiao (581-682), der zu den bekanntesten Ärzten Chinas zählt, teilen die Überzeugung, dass jeder gute Arzt zugleich ein Philosoph sein muss. Die Philosophie stellt in beiden Traditionen den größeren theoretischen Rahmen dar, in dem die Heilkunde ihre praktische Anwendung finden konnte.

Ausgangspunkt für die Überlegung, dass es die Philosophie mit der Medizin (wieder) zu verbinden gilt, ist nicht zuletzt der Umstand, dass viele medizinische Vorstellungen, im Abendland wie deren Äquivalenten in China, eine konkrete Manifestation des allgemeinen philosophischen Denkens darstellen. Denn„ wer sich weigert, die philosophischen Voraussetzungen seines (alltäglichen oder wissenschaftlichen) Tuns zu befragen, entkommt ihnen keineswegs, sondern verfällt ihnen bloß kritiklos.“ 

Dabei ist die zentrale philosophische Frage des Abendlandes nach dem Verhältnis von Leib-Seele sowohl im Hinblick auf das Verhältnis von Arzt und Patient wie für den gesamten therapeutischen Prozess, durchaus kein rein philosophisches oder gar rein „metaphysisches“ Problem. Vielmehr basiert die alltägliche klinische Arbeit auf bestimmten „unbemerkt vollzogenen Vorentscheidungen“, die in der Regel vom Behandler nicht mehr reflektiert werden. Freilich macht es, sowohl für die Diagnose wie für die Therapie einen wesentlichen Unterschied, ob die Psyche – und dies trifft auf die Medizin im Allgemeinen wie auf die Psychiatrie im Besonderen zu – als rein somatisches Phänomen begriffen wird, oder ob ihr ein eigener Seinsbereich und damit eine gewisse Selbstbestimmtheit zugedacht wird. Insofern sind die unterschiedlichen, philosophischen und erkenntnistheoretischen Vorstellungen von der Psyche in der Schulmedizin und dem Seelischen bzw. dem Geist (shen) in der Chinesischen Medizin , sowohl im Hinblick auf die spezifischen theoretischen Grundlagen der Medizin als auch für die klinische Praxis von größter Bedeutung. 

 

Philosophie in der Schulmedizin 

 

Im Laufe der geistesgeschichtlichen und medizinhistorischen Entwicklung des Abendlandes ist die Philosophie – ursprünglich „Mutter“ aller Wissenschaften – immer mehr zu Einzelwissenschaft geworden, während ihre theoretische Bedeutung für die Medizin von den Naturwissenschaften abgelöst wurde. Zu den bedeutendsten Merkmalen der Entwicklung der abendländischen Medizin – insbesondere innerhalb der letzten 150 Jahre – gehört die fortschreitende Aufspaltung des Menschen, angefangen von den einzelnen Organen, Knochen und Muskeln bis hin zu den feinsten Zellstrukturen mit dem Ziel, Erkrankungen des Gesamtorganismus auf pathologische Veränderungen im Mikrobereich ursächlich zurückführen zu können. Diese Vorgehensweise ist Teil des analytischen Denkens, welches, im Rahmen des Prinzips von Ursache und Wirkung, für jede Art von identifizierbarer Erkrankung immer eine definitive Ursache annimmt. 

Ein Auslöser für diese medizinische Entwicklung, welche gegenwärtig die meisten Länder der westlichen Welt prägt, waren die physikalischen Entdeckungen Galileis. Denn mit ihm ist die Idee von der Selbst-Bewegung – welche seit Platon als das bestimmende Charakteristikum der Seele gegolten hatte und daher zugleich im Sinne einer letzten Ursache für jede Art von Leben betrachtet wurde – vollkommen hinter dem Modell der bewegten Bewegung zurückgetreten, wie es von Heisenberg im Modell der Billardkugelbewegung zusammengefasst wurde. Dort wird weder eine letztendliche Ursache noch ein letztendliches Ziel der Bewegung beschrieben. Es geht vielmehr um die Darstellung des Prinzips von Ursache und Wirkung anhand der Bewegung einer Billardkugel, welche wiederum durch eine andere Billardkugel ausgelöst wurde, nachdem die Wirkung der Schwerkraft durch den Billardtisch weitgehend minimiert worden ist. 

Die daraus resultierende mechanische Betrachtungsweise des Organismus hat beispielsweise zu einer immer deutlicheren Trennung des Psychischen vom Körperlichen geführt. Ihr wurde freilich im 20. Jahrhundert durch die Entwicklung der psychosomatischen Medizin und die Herausbildung solcher Fachgebiete wie Psychoneuroimmunologie insofern entgegengesteuert, als dass auf der Grundlage dieser strikten Trennung zumindest eine gegenseitige Beeinflussung von Psyche und Körper angenommen wird. 

Eine seitens der Naturwissenschaft paradoxe Konsequenz der Trennung von Psyche und Körper ist schließlich die „Beschwörung“ einer ganzheitlichen Medizin – zu der auch, aber nicht nur die Chinesische Medizin gehört –, von deren Theorie und Praxis jedoch zumeist nur ungenaue und oftmals stark emotional geprägte Vorstellungen bestehen.

 

Philosophie in der Chinesischen Medizin 

 

Die theoretischen Grundlagen der Chinesischen Medizin beruhen auf einer 2000 Jahre alten Tradition. Auch wenn diese im Laufe der letzten beiden Jahrtausende vielen Veränderungen unterworfen war, wodurch das medizinische System immer weiter differenziert wurde und bis heute noch wird, stehen weder das kausal-analytische Denken noch die Aufspaltung des Organismus in seine Einzelteile im Mittelpunkt des Vorgehens. Die grundlegende Fragestellung in der chinesischen Geistesgeschichte ganz allgemein und der Chinesischen Medizin im Besonderen ist nicht primär ontologischer Natur. Der Diskurs beschäftigt sich weniger mit der Frage „was ist“ oder „woraus besteht“ eine bestimmte Substanz – also mit dem „An-sich-Sein“ einer Gegebenheit – als vielmehr mit der Frage „wie funktioniert das“ oder „wie stehen die einzelnen Teile und Funktionen in Beziehung miteinander.“ Im chinesischen Denken geht es meist um die Dynamik einer Funktion oder eines Gebrauchs im Hinblick auf seine Wirkung oder Bedeutung für Andere. Somit steht beispielsweise die Funktion der einzelnen Organe (und nicht deren Substanz) sowie ihr Verhältnis zu den anderen Organen bzw. Aspekten des Organismus im Mittelpunkt. Auch liegt das Augenmerk vielmehr auf dem Prozess und der Dynamik von Lebensvorgängen als auf dem Zustand  derselben.

Eines der wichtigsten und ältesten Werke zur Theorie der Medizin – das Huangdi Neijing („der Klassiker des gelben Kaisers“) – beschäftigt sich  nicht ausschließlich mit medizinischen Themen als vielmehr mit allgemeinen Fragen zum Verhältnis von Natur und Mensch sowie einer angemessenen Lebensführung. Bemerkenswert ist, dass die Medizin – in Gestalt der klassischen medizinischen Texte – in China niemals als ein vom philosophischen Diskurs isoliertes Fachgebiet begriffen wurde. 

Ihre Theorien und Texte sind vielmehr Ausdruck eines kontextgebundenen Denkens, weswegen ein tief greifendes Verständnis nur vor dem entsprechenden geistesgeschichtlichen Hintergrund erzielt werden kann.